Sie sind hier: Startseite > Geschichten > Eine Geschichte

Eine Geschichte

Kapitel1
Sie hatte wieder von dem Jungen geträumt, von dem hübschen Jungen mit der Brille und dem dunklen halblangen Haar. Schon seit einer ganzen Weile träumte sie von ihm, immer wieder, nicht jede Nacht, aber dennoch oft genug. Die Träume waren alle ähnlich, in jedem begegnete sie irgendwo diesem Jungen, aber immer gerade als sie ihn ansprechen wollte, war der Traum vorbei. „Marischan“, flüsterte sie, kaum dass sie richtig wach geworden war, und richtete sich in ihrem Bett auf. „Ich habe wieder von dem Jungen geträumt.“ Marischan Boresan gähnte und streckte sich am Fußende auf der mit Zitronen gemusterten Bettdecke, wo er geschlafen hatte. Er war ein Fuchs und lebte bei ihr wie ein Hund oder eine Katze, war aber alles andere als ein Haustier. Denn Marischan war ein besonderer Fuchs. Er gähnte, legte den Kopf schief und blinzelte mit seinen blauen Augen - eine sehr ungewöhnliche Augenfarbe für einen Fuchs, die seine Besonderheit unterstrich. „Wieder der Junge, Sarah?“, sagte er dann bedächtig. „Ich bin mir inzwischen sicher, das hat etwas zu bedeuten. So oft wie du von ihm träumst … das ist schon langsam auffällig.“ - „Ja, das glaube ich langsam auch“, erwiderte Sarah und stand auf, um sich anzuziehen. „Ich werde wieder mal ein wenig darüber nachdenken, wenn ich jetzt gleich zum Bäcker gehe.“ Sarah hatte gerade Faschingsferien, aber ihre Eltern mussten trotzdem früh zur Arbeit - denn die Feiertage waren gerade vorbei - und waren schon nicht mehr zu Hause. Sarah wollte sich ein paar Semmeln fürs Frühstück kaufen. .
Es war ein schöner, sonniger Morgen Ende Februar, warm genug, dass der Schnee auf den Gehwegen und Bordsteinen zu schmelzen begann. Es lag bereits eine Vorahnung des Frühlings in der Luft und in der Art, wie die Vögel in den Bäumen und Sträuchern der Gärten zwitscherten. Auch Sarah spürte bereits den kommenden Frühling, und das Gefühl der Vorfreude auf eine hellere und wärmere Jahreszeit erfüllte sie. Heute war Sarah an der Reihe mit Brötchenholen. In ihrer Familie wechselte man sich immer damit ab, und die Eltern hatten an diesem Tag die letzten beiden Semmeln gefrühstückt. Sarah kaufte heute, so wie es abgemacht war, welche für sich selbst und ihren Bruder und für den nächsten Tag. Die Bäckerei des kleinen Städtchens Sotto Slissimo lag an einer Ecke der Strada Quartiere, einer der wichtigsten Straßen des Städtchens und diejenige mit den meisten Läden und Cafés. Sarah betrat die gemütliche kleine Bäckerei - und glaubte, ihren Augen nicht zu trauen: Dort stand er, der Junge aus ihren Träumen, und bestellte freundlich lächelnd eine Tüte Gebäck. Nachdem er bezahlt hatte und an Sarah vorbeiging, trafen sich ihre Blicke, und dann lächelte er, und sie lächelte zurück. Sarahs Herz klopfte schneller, und ein unbeschreibliches Gefühl erfasste sie. Er war es, das war der Junge, von dem sie geträumt hatte, in der vergangenen Nacht und in mehreren Nächten zuvor! Es gab ihn also wirklich, und sie hatte ihn gefunden. Er sah ganz genauso aus wie in ihren Träumen, sein Haar war sehr dunkel und reichte ihm bis auf die Schultern, und er trug eine Brille. Seine Augen waren braun und strahlend. Und dann war der Augenblick vorbei, und er ging zur Tür. Noch immer eigenartig erregt, trat Sarah an die Ladentheke und kaufte schnell ihre Semmeln. Dann ging sie zur Tür und verließ den Laden, um nach Hause zu gehen, aber sie musste einfach ständig an den Jungen denken. Sie hatte von ihm geträumt, und jetzt hatte sie ihn gesehen, im wirklichen Leben. Für einen Augenblick kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht auch von ihr geträumt haben könnte, aber das hielt sie eher für unwahrscheinlich - es wäre ein zu großer Zufall gewesen. Andererseits, war es vielleicht kein genauso großer Zufall, von jemandem zu träumen, den man noch nie gesehen hatte, und ihm dann im wirklichen Leben zu begegnen? Sarah beschloss, mit Marischan darüber zu reden, sobald sie wieder zu Hause war.
Sarah schloss die Tür der Bäckerei hinter sich und wandte sich zum Gehen, als plötzlich etwas sie dazu bewegte, stehen zu bleiben. Es war der Junge; er war immer noch vor dem Laden, hatte gerade seinen Einkauf auf den Gepäckträger seines Fahrrades geladen und nun blickte er auf und lächelte Sarah an. Jetzt oder nie, dachte sie. Ich muss etwas zu ihm sagen, sonst ist die Gelegenheit für immer vorbei. Sarah fasste sich ein Herz. „Hallo“, sagte sie zu dem Jungen und lächelte ebenfalls. „Schöner Tag heute, was?“ Oh Mann, wie doof, dachte sie gleich darauf. Was Besseres fällt dir wohl nicht ein? - „Ja, das Wetter ist wirklich sehr schön“, erwiderte der Junge und lächelte noch breiter. „Schon fast frühlingshaft.“ - „Ja, das stimmt. Ich heiße übrigens Sarah“, sagte Sarah und lächelte schüchtern. Wenn schon, denn schon. „Ein schöner Name“, sagte der Junge. „Ich heiße Daniel.“ - „Das ist auch ein sehr schöner Name. Wohnst du auch hier im Ort?“, fragte Sarah. „Ich habe dich noch nie gesehen. Kauft du oft hier beim Bäcker ein?“ - „Ja, ich wohne hier in Sotto Slissimo“, erwiderte Daniel und lächelte wieder dieses unwiderstehliche Lächeln. Dieses Lächeln berührte Sarah tief, und ihr wurde ganz warm ums Herz. Es war, als ginge die Sonne auf. Dieses Lächeln war es wahrscheinlich auch, was den Ausschlag gab, als Sarah ihren ganzen Mut zusammennahm und fragte: „Was hältst du davon, wenn wir uns mal treffen?“ Sie war selbst überrascht darüber - es war ihr einfach herausgerutscht. Normalerweise war sie doch so schüchtern. Daniel zog überrascht die Augenbrauen hoch und grinste wieder. „Ja, gerne. Das Café Girasole wäre doch nett, oder?“ - „Okay“, erwiderte Sarah, und innerlich platzte sie fast vor Aufregung und Freude. - „Dann also nächsten Sonntag im Café Girasole. Ich freue mich schon.“ - „Ich mich auch. Bis dann.“ Als jeder seiner Wege ging, wurde es Sarah auf einmal ganz leicht ums Herz.
Sarah ging nach Hause, in ihr brodelte ein Gefühlsaufruhr wie ein Frühlingssturm. Auf dem ganzen Heimweg konnte sie an nichts anderes denken als an das, was sie gerade erlebt hatte, und nahm kaum etwas um sich herum wahr. Zu Hause angekommen, legte sie die Tüte mit den Semmeln auf den Küchentisch und vergaß sie vorerst, weil sie sofort alles Marischan erzählen wollte. „Siehst du“, sagte der Fuchs mit wissenden und freudestrahlenden blauen Augen, „dein Traum hat also tatsächlich etwas bedeutet. Man könnte meinen, eure Schicksale wären miteinander verbunden …“ - „Und jetzt habe ich sogar eine Verabredung mit ihm“, sagte sie voller aufgeregter Freude. „Ich freue mich sehr für dich“, sagte der Fuchs. „Und eins noch … es würde mich nachher sehr interessieren, zu erfahren, wie es war. Ich meine, wenn so eine Sache schon mit einem prophetischen Traum beginnt …“ Er zwinkerte verschmitzt. „Klar erzähle ich dir nachher davon“, sagte Sarah. Marischans Fuchsschnauze verzog sich zu einem Lächeln, was weniger komisch wirkte, als man glauben mochte.
Am nächsten Sonntag war das Wetter wieder genauso strahlend wie an dem Tag, als Sarah Daniel zum ersten Mal in der Bäckerei begegnet war. Inzwischen hatte der März begonnen, und der Frühling kam immer näher. Es lag noch immer verhältnismäßig viel Schnee, aber an vielen Stellen hatte er bereits zu tauen begonnen, und darunter bahnten sich die Spitzen der ersten Frühlingsblumen ihren Weg an die Oberfläche. In der Dämmerung sangen jetzt morgens und abends die Vögel auf den Dächern und in den Bäumen.
Sarah war aufgeregt, als sie das Café Girasole betrat. Daniel wartete dort bereits, an einem Tisch am Fenster. „Hi“, grüßte sie strahlend, und er strahlte zurück: „Hallo. Du siehst heute aber besonders hübsch aus. Wie geht es dir?“ Sie setzte sich ihm gegenüber an den kleinen Tisch und errötete leicht, geschmeichelt von dem Kompliment. „Danke. Du aber auch.“ Das war die Wahrheit; sie fand ihn wirklich sehr hübsch. „Mir geht es gut. Und dir?“ - „Mir geht es auch gut.“ Sie lächelte schüchtern, sah ihm in die Augen und blickte gleich darauf zur Seite, nur um ihn in der nächsten Sekunde wieder anzuschauen. Sie traute sich nicht so recht, ihn anzuschauen, konnte aber auch nicht wegschauen. „Wohnst du schon lange hier?“, fragte sie. „Ich… ich meine, ich finde es schon ungewöhnlich, dass ich dich in unserem kleinen Ort hier noch nie getroffen habe.“ - „Nein, ich wohne noch nicht lange hier“, antwortete Daniel und lehnte sich leicht nach vorne, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte eine Hand auf die andere und dann das Kinn auf die Hände. Dabei schaute er Sarah die ganze Zeit so intensiv und aufmerksam in die Augen, dass sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Erst seit ein paar Monaten. Ich habe eine Wohnung für mich alleine; meine Eltern sind nicht mit hierher gezogen.“ Sarah nickte; sie sah etwas Unausgesprochenes in seinen Augen, aber sie traute sich nicht zu fragen, wie es dazu gekommen war. Im nächsten Moment erübrigte sich das auch, denn eine Kellnerin erschien plötzlich an ihrem Tisch und fragte nach der Bestellung. Sarah und Daniel bestellten je eine Apfelsaftschorle. „Und eine Ingwer-Zimtschnecke, bitte“, fügten sie beide wie aus einem Mund hinzu. Sie sahen sich einen Augenblick an, dann lachten sie. „Du magst auch Ingwer-Zimtschnecken?“, fragte Sarah erstaunt. „Ja, das ist meine Lieblingssorte“, lächelte Daniel. Beiden wurde warm ums Herz, als sie merkten, dass sie sich auch ohne Worte verstanden und dass da eine Art Verbindung zwischen ihnen bestand. Kurz darauf nippten sie schon an ihren Getränken und aßen ihre Zimtschnecken. Sarah nahm einen Schluck, dann stellte sie das Glas wieder hin und meinte: „Ich wohne mit meiner Familie in einem Reihenhaus in der Vianellostraße. Und - glaub es oder nicht - ich habe einen Fuchs. Na ja, haben kann man eigentlich nicht sagen. Er ist kein Haustier, sondern eher ein Freund.“ Sarah verstummte, erstaunt über sich selbst; sie wusste selbst nicht, warum sie Marischan erwähnt hatte, wurde aber plötzlich von einer seltsamen Erregung gepackt, die ihr das Gefühl gab, dass sie gerade einen wichtigen Schritt getan hatte. „Einen Fuchs?“, sagte Daniel und hob erneut die Augenbrauen - Sarah merkte auf einmal, wie sie es liebte, wenn er das tat, es ließ ihr Herz höher schlagen. „Das ist ja ungewöhnlich.“ - „Du darfst ihn gerne einmal sehen“, schlug Sarah strahlend vor. „Er würde sich sicher auch freuen, dich kennen zu lernen. Aber wo wir gerade bei Tieren sind … kennst du schon die Pferde, die auf der Wiese am Waldrand leben?“ - „Pferde?“, fragte er. „Nein, die kenne ich noch nicht.“ - „Soll ich sie dir zeigen?“, fragte Sarah, von freudigem Eifer erfüllt. „Sie sind halb wild, aber trotzdem ganz zutraulich. Manchmal bringe ich ihnen eine Karotte oder einen Apfel mit. Oh, es gibt so vieles, was ich dir so gerne zeigen würde.“ - „O ja, gerne“, erwiderte Daniel. „Das würde mich sehr freuen.“ „Gleich nachher?“ - „Ja, warum nicht?“ Sie tranken ihre Apfelschorle aus und zahlten.
Als sie gemeinsam das Café verließen, gerade als sie beide auf der Türschwelle standen, lief Sarah plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken. Es war ein seltsames und unheimliches Kribbeln, ganz anders als das schöne warme Gefühl im Bauch, das das Zusammensein mit Daniel ihr bereitete, und es schien seinen Ursprung irgendwo im Café zu haben. Zögernd drehte sie sich kurz nach Daniel um, um festzustellen, ob er es auch gespürt hatte, aber wenn da ein Schatten über sein Gesicht huschte, dann war er so flüchtig, dass er ebenso gut hätte Einbildung sein können. Also sagte Sarah nichts, sondern schenkte ihm nur ein kurzes Lächeln, bevor sie die Tür öffnete und ihn durch die Straßen von Sotto Slissimo zum Ortsrand führte, dort, wo die Wiesen und Felder an den Wald grenzten.
Die Wiese lag ein Stück außerhalb von Sotto Slissimo und war an zwei Seiten von Wald geschützt. Die Pferdeherde, die dort lebte, war halb wild; sie ließen sich zumeist nicht reiten, aber sie zeigten auch keine Furcht vor Menschen. Was wahrscheinlich daran lag, dass ab und zu der eine oder andere Bewohner von Sotto Slissimo vorbeikam und ihnen Karotten oder Äpfel mitbrachte, um im Gegenzug ihre Stirn und Nüstern zu streicheln. Als sie sahen, wie die beiden jungen Menschen sich ihnen näherten, blickten einige der Pferde neugierig zu ihnen herüber; andere blickten nur kurz auf, zuckten mit den Ohren und grasten dann weiter. Sie waren Besuch von Zeit zu Zeit gewohnt. Die Herde bestand aus etwa zwanzig Pferden, unter ihnen drei oder vier Jährlinge; und drei der Stuten waren, wie man sehen konnte, auch dieses Jahr trächtig.
Als sie die Herde fast erreicht hatten, deutete Sarah auf einen schönen, kastanienbraunen Hengst mit glänzendem Fell, das an Beinen, Nüstern, Schwanz und Mähne schwarz war. Der Hengst hatte sie schon eine ganze Weile aufmerksam betrachtet. „Das ist der Leithengst“, er-klärte Sarah. „Er heißt Alano.“ - „Woher weißt du das?“, fragte Daniel. „Oder hast du ihm den Namen gegeben?“ Sarah schüttelte mit einem wissenden Lächeln den Kopf. „Nein. Pass auf, gleich wirst du es sehen.“ Sie ging auf den Hengst zu, der sie immer noch aufmerksam anblickte, und Daniel folgte ihr. Sarah begrüßte den Leithengst, indem sie zunächst in Gedanken zu ihm sprach: "Hallo Alano. Gibt es etwas Neues?" - "Zum Glück nur gute Nachrichten", erwiderte der Hengst, ebenfalls in Gedanken. "Acacia, Nahani und Kaluha sind trächtig und werden bald fohlen, was für uns alle ein Anlass zu großer Freude ist." Er richtete den Blick seiner sanften Pferdeaugen auf Daniel, der neben Sarah stand und sachte die Hand nach Alanos Nüstern ausstreckte, um das Pferd daran schnuppern zu lassen. "Und wie steht es bei dir", fragte der Hengst Sarah. "Wie ich sehe, hast du einen neuen Freund gefunden. Das freut mich. Wie heißt er?" - "Ich heiße Daniel", sagte Daniel in Gedankensprache. "Freut mich, dich kennen zu lernen." Sarah warf ihm einen überraschten Blick zu. „Du … du kannst auch mit den Tieren sprechen?“, fragte sie verblüfft. Daniel lächelte schalkhaft. „Das konnte ich schon immer.“ - „Noch etwas, das wir gemeinsam haben“, stellte Sarah voller Freude fest. Dann wandte sie sich den Pferden zu. "Wir haben euch heute wieder etwas mitgebracht", verkündete sie. Die Pferde, vor allem die jüngeren, drängten sich freudig schnaubend um sie, als sie eine Handvoll Zuckerwürfel aus der Hosentasche holte, die sie aus dem Café mitgenommen hatte. Auch Daniel steckte die Hände in die Taschen und zog einige Zuckerwürfel hervor; auch er hatte im Café welche eingesteckt. Voller Freude fraßen ihnen die Pferde die süßen Zuckerwürfel aus der Hand. Danach blieben Daniel und Sarah noch eine ganze Weile bei den Pferden auf der Wiese und unterhielten sich mit ihnen. Bis Sarah merkte, dass die Sonne sich dem westlichen Horizont näherte. „Oh, so spät schon“, sagte sie bedauernd. „Schade, ich muss jetzt gleich nach Hause. Es war ein wunderschöner Tag mit dir, Daniel. Werden wir uns wieder treffen?“ - „Sehr gerne.“ Daniels Augen leuchteten, als er ihr herzliches Lächeln erwiderte. „Nächsten Sonntag, selbe Zeit, selber Ort, also wieder im Café? Oder gleich hier?“ Sarah überlegte kurz. „Vielleicht vor der Bäckerei, wo wir uns zum ersten Mal gesehen haben. Dann können wir uns überlegen, wo wir hingehen wollen. Es gibt noch so viele schöne Plätze hier, wo wir zusammen hingehen könnten und die ich dir gerne zeigen würde.“ - „In Ordnung. Ich freue mich schon.“ „Ich mich auch. Bis in einer Woche.“
Mit singendem Herzen machte sich Sarah auf den Weg nach Hause. Sie war überglücklich über den schönen Tag und die Aussicht, Daniel bald wieder zu sehen.

Kapitel 2
Auch am nächsten Sonntag strahlte die Sonne vom klaren hellblauen Frühlingshimmel, der Schnee war inzwischen bis auf wenige weiß glitzernde Reste geschmolzen, und Sarah freute sich über ihre wärmenden Strahlen, freute sich über jede Primel und jeden Krokus, den sie auf ihrem Weg sah. Sie war bester Laune, denn sie war auf dem Weg zu ihrem zweiten Treffen mit Daniel. Als sie Marischan von der ersten Begegnung erzählt hatte, hatten die blauen Augen des Fuchses geleuchtet. „Ich würde Daniel auch gerne einmal kennen lernen“, hatte er in einem schwer zu deutenden Ton gesagt, und dabei hatte ein kaum merkliches Lächeln um seine Fuchsmundwinkel gespielt. „Das wirst du schon noch, Marischan“, erwiderte Sarah. Der Fuchs nickte. „Ja, das werde ich, wenn die Zeit gekommen ist.“
Als Sarah die Bäckerei erreichte, wartete Daniel dort bereits auf sie. Als er sie kommen sah, erhellte wieder das strahlende Lächeln sein Gesicht, das Sarah so sehr mochte und bei dem ihr immer so warm ums Herz wurde. Die beiden begrüßten einander strahlend; sie freuten sich sehr, einander wieder zu sehen. „Und, wohin wollen wir heute gehen?“, fragte Daniel und blickte sie mit seinen braunen Augen so freudig und liebevoll an, dass ihr noch wärmer ums Herz wurde, falls das überhaupt möglich war. „Ich dachte mir, ich könnte dir heute den Park zeigen“, schlug Sarah mit einem vergnügten Leuchten in den Augen vor. „Dort gibt es einen Hügel, von dem aus man eine herrliche Aussicht hat. Warst du schon einmal dort?“ „Nein, noch nie“, erwiderte Daniel. „Gut“, sagte Sarah, „dann lass uns gehen.“ Die Frühlingssonne schien hell und warm auf sie herab, als sie sich gemeinsam auf den Weg machten.
Während die beiden sich auf den Weg zum Park machten, war auch Marischan Boresan in Sotto Slissimo unterwegs. Er wollte sich mit seiner Freundin Nelly unterhalten, einer warmherzigen schwarzen Katze, die nicht weit entfernt wohnte und die auch selbst öfter mal vorbeikam, denn Sarah und sie verband ebenfalls eine Art Freundschaft. Immer wenn Sarah am Garten des Hauses vorbeikam, in dem Nelly wohnte, kam diese ihr vor Freude maunzend entgegen und sprang über den Gartenzaun, und Sarah streichelte sie dann und unterhielt sich mit ihr in der Sprache der Tiere über alle Neuigkeiten. Und auch mit Marischan war Nelly befreundet, der von ihr ebenfalls stets die Neuigkeiten erfuhr. Denn eine Katze, die den Ort durchstreifte, bekam viel mit. Und heute wollte Marischan sich wieder mit ihr unterhalten.
Der Fuchs, der die sonnigen Straßen hinunterschnürte, war kein ungewöhnlicher Anblick mehr für die Bewohner von Sotto Slissimo. Sie wussten inzwischen, dass Sarah aus der Vianellostraße einen Fuchs hatte, aber irrtümlicherweise hielten sie ihn für ein etwas ungewöhnliches Haustier. Doch weder Marischan noch Sarah gaben ihnen einen Grund, diesen Irrtum anzuzweifeln. Es war ihnen nur recht so. Marischan hatte nicht lange zu gehen, denn Nelly wohnte nicht weit von Sarahs Haus ent-fernt. Als er ihren Garten erreichte, saß sie gerade auf den Natursteinplatten der Terrasse und genoss die warme Frühlingssonne. „Guten Morgen, Nelly“, rief der Fuchs zu ihr herüber, und sie wandte sich ihm zu. Oh, hallo Marischan, erwiderte die Katze den Gruß in der Sprache der Tiere. Sie erhob sich, lief über den Rasen zum Gartenzaun und sprang leichtfüßig auf die andere Seite zu dem Fuchs hinüber. Was gibt es? fragte sie ihn mit liebenswürdigem Blick, so hellgrün wie das Frühlingsgras. „Ich möchte mit dir reden“, sagte Marischan. „Über etwas Erfreuliches und über etwas weniger Erfreuliches.“ Schieß los, ich bin ganz Ohr, sagte die Katze und setzte sich vor Marischan hin, den Schwanz um die Vorderpfoten gelegt. „Sarah hat einen neuen Freund gefunden“, begann Marischan voller Freude. „Einen ganz besonderen Freund, denn sie scheinen seelenverwandt zu sein und es ist ein Glück und vielleicht kein Zufall, dass sie sich gefunden haben. Sie verstehen sich wirklich sehr gut. Es könnte wieder ein Anfang sein.“ Du meinst also, dass die Zeit gekommen ist? fragte die Katze hoffnungsvoll. „Ich denke schon“, erwiderte der Fuchs mit einem glitzernden Leuchten in den ungewöhnlichen blauen Augen. „Denn es haben eindeutig die Richtigen zueinander gefunden. Und das genau zur rechten Zeit. Es gibt nämlich auch eine unerfreuliche Nachricht.“ Meinst du etwa… sagte Nelly alarmiert und riss ihre hellgrünen Augen weit auf. Ihre Schwanzspitze zuckte nervös. „Ja“, bestätigte Marischan. „Es wird Zeit, dass die Sieben wieder zusammenfinden, denn die Schatten sind wieder aufgetaucht.“
„Es ist schön hier“, sagte Daniel bewundernd, als er und Sarah den Park von Sotto Slissimo betraten. Der Park bestand aus einem kleineren, älteren Teil mit großen Bäumen und einem größeren, neueren Teil, der bis vor beinahe zehn Jahren ein ungenutztes, verwildertes Feld gewesen und dann dem Park angegliedert worden war. Durch den alten Teil gelangten sie in den neuen. Sie kamen an einer Mauer vorbei, die dick mit Efeu berankt war. Eine Amsel saß in dem dichten Efeu und suchte nach Beeren; Sarah sah ihren gelben Schnabel in der Sonne aufleuchten. Ein süßer Duft wie von Himbeeren lag in der Luft. Der Park war voller fröhlicher Menschen, die die ersten warmen Strahlen der Frühlingssonne genossen; lachende Kinder spielten auf den Wiesen. Sarah und Daniel kamen an einem Kreis aus jungen Kirschbäumen vorbei, in dessen Mitte sich eine kleine Senke befand. Hier spielten ebenfalls oft Kinder, und es war auch ein guter Platz für ein Picknick. „Das können wir ja auch einmal machen“, meinte Daniel, als Sarah ihm erzählte, wie sie letztes Jahr einmal mit Freunden an dieser Stelle in der Mitte des Baumkreises gepicknickt hatte. Vor ihnen führte der breite, gewundene Weg auf den Aussichtshügel zu. Sie folgten ihm den Hügel hinauf, bis auf den Gipfel, auf dem ein Kreis aus Bänken stand, rings um ein rundes Hochbeet mit Narzissen, roten Tulpen, Hyazinthen und Primeln gruppiert. Sarah und Daniel blieben jedoch stehen und genossen die Aussicht. Sie staunten, wie weit der Blick reichte, über den ganzen kleinen Park und darüber hinaus, und beide empfanden dasselbe Glücksgefühl. Sie blickten über grüne Wiesen, die in der Sonne leuchteten, Menschen, Bäume und bis auf die Häuser jenseits des Parks. „Daniel“, fragte Sarah, „hast du eigentlich mal von mir geträumt?“ Verblüfft blickte er sie an. „Geträumt?“ „Ja…“ Sarah zögerte. „Bitte halte mich jetzt nicht für verrückt oder so, aber ich… ich habe von dir geträumt, bevor ich dich zum ersten Mal getroffen habe.“ Sie wartete ab, wie er darauf reagieren würde. Sein Blick wurde nachdenklich und schweifte in die Ferne. „Ja, ich glaube, da war etwas“, sagte er schließlich. „Ja, ich habe von dir geträumt.“ Er wandte sich wieder Sarah zu und sah ihr in die Augen. „Schon irgendwie komisch. Dabei hatte ich dich doch vorher auch noch nie gesehen. So etwas kann doch bestimmt kein Zufall sein.“ „Nein, das glaube ich auch nicht“, erwiderte Sarah. Und dann standen sie noch eine Weile schweigend nebeneinander und blickten über den Park.
Schließlich stiegen sie wieder vom Hügel herunter und gingen weiter durch das frühlingshafte Grün. Plötzlich schob sich eine Wolke vor die Sonne, die Erde und der Park wurden in Schatten getaucht, und das unheimliche, mulmige Gefühl war wieder da, das Daniel und Sarah eine Woche zuvor beim Verlassen des Cafés gespürt hatten. Sie erschauderten und rückten unwillkürlich näher zusammen. Diesmal wusste jeder von beiden, dass der andere es auch spürte. Und diesmal merkten sie, woher es kam. Es kam von dem kleinen Amphitheater, das wenige Meter neben ihnen in die Flanke des Hügels gebaut war. Sie blieben stehen und wechselten einen Blick; wieder verstanden sie sich ohne Worte. Leise und vorsichtig wichen sie vom Weg ab und näherten sich dem Amphitheater, bis sie auf die halbkreisförmigen Stufen hinabschauen konnten. Drei dunkle Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln standen dort unten im Zentrum verschwörerisch beisammen. „Dann machen wir es also wie wir es vor einer Woche im Café besprochen haben“, hörten sie gerade einen von ihnen mit rauer Stimme sagen. „Gaspare Schattenhand hat endlich einen Hinweis darauf, wo sich der Schlüssel befindet. Und diesmal gibt es keine Sieben, die uns in die Quere kommen könnten! Ich denke, übermorgen sind wir soweit und können mit der Suche beginnen.“ Daniel und Sarah wechselten einen Blick und duckten sich hinter das Gebüsch. Instinktiv spürten sie, dass es besser war, nicht von diesen Gestalten gesehen zu werden. Eine unheimliche Aura ging von den finsteren Figuren aus und ließ die beiden Jugendlichen erschaudern; es war dasselbe Gefühl wie eine Woche zuvor im Café, nur ein wenig stärker. Plötzlich wandte einer von ihnen den unter der dunklen Kapuze verhüllten Kopf und blickte genau in die Richtung, in der die beiden Freunde hinter den Büschen saßen. „Wer ist da?“, donnerte er. Eigentlich konnte der Finsterling sie gar nicht sehen, er konnte sie nicht sehen können, dachte Sarah erschrocken, denn sie waren ja hinter dem bereits dicht begrünten Gebüsch verborgen. Aber trotzdem ging diese unheimliche schwarze Ausstrahlung Sarah durch Mark und Bein und bannte sie wie ein verschrecktes Kaninchen, das in die kalten, glitzernden Augen und den aufgerissenen Rachen einer Schlange blickt. Bis Daniel sie an der Schulter packte und weg-zog. Die beiden drehten sich um und rannten, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre, und hielten nicht an, bis sie die Grenze des Parks erreichten. Als ihre rasenden Herzen sich wieder ein wenig beruhigt hatten, keuchte Daniel: „Was waren denn das für Typen?“ „Ich- ich weiß es nicht“, erwiderte Sarah, die mindestens ebenso sehr außer Puste war wie er, „aber sie hatten etwas richtig Unheimliches an sich. Und als wir vor einer Woche im Café waren, da waren sie auch dort, erinnerst du dich?“ Daniel nickte; er erinnerte sich an das mulmige Gefühl, das genau das gleiche gewesen war, und an das, was die dunklen Gestalten im Amphitheater gesagt hatten. (geschrieben von Aileea) „Was hat das alles wohl zu bedeuten?“ Sarahs Miene verdüsterte sich. „Nichts Gutes, soviel steht fest.“ Sie überlegte kurz, dann fügte sie hinzu: „Willst du mit zu mir nach Hause kommen? Ich finde, es ist Zeit, dass du Marischan kennen lernst. Vielleicht weiß er ja etwas darüber- er weiß so einiges über mysteriöse Dinge.“ „Marischan? Meinst du deinen Fuchs?“ „Er ist nicht wirklich mein Fuchs, aber ja. Du wirst schon sehen.“

Als sie in die Vianellostraße einbogen, trafen sie auf Nelly und Marischan. „Ah, gut, dass ihr beide da seid“, begrüßte Sarah die Tiere. „Ich wollte sowieso mit dir reden, Marischan.“ „Das wollte ich auch, Sarah“, sprach der Fuchs. Daniel starrte ihn mit offenem Mund an. Er war es zwar gewöhnt, sich telepathisch mit Tieren zu unterhalten, aber dass ein Tier laut zu ihm sprach, das hatte er noch nie erlebt. Nach einigen Herzschlägen fand Daniel seine Sprache wieder. „Du… du kannst ja sprechen- richtig sprechen, meine ich“, sagte er verblüfft zu dem Fuchs. „Ja, das kann ich“, erwiderte Marischan mit einem amüsierten Funkeln in den Augen und schmunzelte. Sarah ergriff das Wort; sie hatte das Gefühl, es sei höchste Zeit, die beiden einander vorzustellen. „Äh, das ist Marischan Boresan“, erklärte sie Daniel. „Der Fuchs, von dem ich dir erzählt habe.“ „Freut mich, dich kennen zu lernen“, sagte Marischan und lächelte Daniel liebenswürdig an. „Danke, freut mich auch“, erwiderte der junge Mann und hob, noch immer ein wenig verblüfft, die Augenbrauen. „Und das ist Nelly“, fügte Sarah hinzu und wies auf die Katze, die Daniel ebenfalls liebenswürdig anlächelte und ihn mit einem freundlichen Miau begrüßte. „Du kannst aber nicht sprechen, oder?“, fragte Daniel sie verunsichert. Nicht so wie du oder Marischan, nein, erwiderte die Katze telepathisch. „Marischan und Nelly, das ist mein neuer Freund Daniel“, vollendete Sarah die Vorstellung. Die Tiere nickten ihm lächelnd zu. „Aber nun sollten wir besser zur Sache kommen“, sagte Marischan. Dann schmunzelte er wieder. „Ich wollte dich schon lange kennen lernen, Daniel. Das habe ich jetzt, und es freut mich sehr. Ich wollte euch beiden auch sagen, was für ein Glück es ist, dass ihr euch getroffen habt. Und zwar nicht nur für euch. Es ist sehr schön, dass ihr euch so gut versteht, und ihr werdet noch viele wunderbare Dinge zusammen erleben, da bin ich mir sicher. Aber ihr habt auch eine Aufgabe. Es ist kein Zufall, dass ihr euch getroffen habt.“ Daniel blickte fragend von Marischan zu Sarah, und die erwiderte seinen Blick mit einem Achselzucken, das andeuten sollte, dass Marischan solche rätselhaften Dinge öfters von sich gab. „Ja, es gibt auch eine sehr ernste Angelegenheit, über die wir reden müssen“, fuhr der blauäugige Fuchs fort, und sein Ausdruck wurde ernst. „Wir auch“, erwiderte Sarah, und sie erzählte von den finsteren Gestalten, die sie im Park gesehen hatten. „Übermorgen wollen sie aufbrechen, sagten sie- wohin auch immer.“ Marischan nickte ernst, und sein Ausdruck war schon fast ein wenig grimmig. „Sarah, Daniel… es ist an der Zeit, dass ich euch etwas erzähle. Etwas, das euch beide betrifft und das mit diesen Gestalten zu tun hat. Sarah, du weißt ja, dass dein Großvater Johann sechs Geschwister hat.“ Sie nickte, obwohl ihr nicht klar war, worauf der Fuchs hinauswollte. Er fuhr fort. „Aber du wusstest bestimmt nicht, dass ich sie alle persönlich kennen gelernt habe.“ Das versetzte Sarah wirklich in Erstaunen. „Marischan, warum hast du mir nie davon erzählt?“ „Weil die Zeit noch nicht reif war. Aber jetzt ist sie es.“ „Und du, Nelly du wusstest es auch die ganze Zeit?“, wandte sie sich an die Katze. Ja, ich wusste es, sagte sie, Marischan wird gleich alles erklären. Der Fuchs blickte noch einmal nachdenklich an den beiden jungen Menschen vorbei in die Ferne und sammelte sich, als er begann: „Sarah, dein Großvater und seine Geschwister kannten ein Geheimnis… ein Geheimnis, in das ich sie eingeweiht hatte und das sie fortan beschützten. Sie waren damals ungefähr in eurem Alter- Jugendliche oder junge Erwachsene.“ „Aber wie kann das sein?“, staunte Sarah. „Das ist viele Jahrzehnte her, und du… du bist erst neun.“ Marischans ruhiger, tiefgründiger Blick traf ihren, und ein amüsiertes Funkeln trat in seine blauen Augen. „Damals war ich auch noch kein Fuchs“, sagte er. „Wie… wie meinst du das?“ „Das ist eine lange Geschichte“, erwiderte Marischan, „und ich muss sie von Anfang an erzählen. Sie beginnt damit, dass dein Großvater und seine sechs Geschwister mich fanden und mir das Leben retteten. Sie kamen in den Wald hinter Sotto Slissimo, um Steinpilze zu sammeln. Und dort hatten die Schatten mich in die Enge getrieben. Sie wollten mich töten für das, wofür ich mich einsetzte, und für das, was ich war. Ich habe ja schon erwähnt, dass ich damals noch kein Fuchs war. Ich war ein Einhorn, eines der letzten Einhörner dieser Welt.“ „Ein Einhorn?“, staunte Daniel mit großen Augen, als der Fuchs eine kurze Pause machte. „Wirklich, ein Einhorn?“ Sarahs Blick wanderte von ihrem vierbeinigen zu ihrem zweibeinigen Freund, und Marischan schenkte ihm ein geheimnisvolles Lächeln. „Ich nehme an, du hast heute nicht zum ersten Mal von Einhörnern in dieser Welt gehört?“ „Da hast du Recht“, erwiderte Daniel. „Aber ich dachte, es gäbe schon lange keine mehr.“ „Gibt es auch nicht“, bestätigte Marischan. „Sie leben nun alle an einem anderen Ort, aber dazu werde ich später kommen. Die Geschichte muss der Reihe nach erzählt werden.“
Sarah lauschte staunend. Beinahe war ihr, als könnte sie das weiße Leuchten des Einhorns zwischen den Bäumen des Waldes sehen, das von drei dunklen Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln bedroht wurde. Ein kurzer Blick zu Daniel zeigte ihr, dass es ihm genauso ging.
„Drei Schatten waren es, die mich umzingelt hatten und versuchten, mich mit Stricken zu fangen und mich anschließend zu töten, aber da kamen dein Großvater und seine Geschwister hinzu… sie waren sehr mutig, Sarah. Aurelie, die älteste Schwester deines Großvaters, rief ihnen zu, sie sollten mich in Ruhe lassen, und die drei Schatten wandten sich den sieben jungen Leuten zu. Es stand Sieben gegen Drei, doch die Schatten gaben sich trotzdem nicht sofort geschlagen. Sie glaubten, sie wären den Menschen dieser Welt überlegen, auch wenn sie selbst in der Unterzahl waren. Aber dein Großvater und seine Geschwister sind außergewöhnliche Menschen, sie besitzen magische Kräfte. Wenn auch vielleicht nur deshalb, weil sie ein Einhorn gesehen hatten und dadurch, dass sie es retteten, zu den Sieben wurden. Sie stellten sich den Schatten entgegen- Aurelie, Halinor, Johann, Emilia, Lenora, Remigius und Elfrida - und als die drei Schatten die Arme hoben und Dunkelheit um sie zu wabern begann, taten die Sieben dasselbe. Sie waren selbst überrascht über das, was sie da so ganz selbstverständlich machten, obwohl sie es noch nie zuvor getan hatten; sie spürten zum ersten Mal ihre Elementarkräfte in sich. Und auch um ihre Hände begann es zu glühen, aber nicht mit Dun-kelheit, sondern mit Licht. Bei den meisten in verschiedenen tiefen Blautönen, bei Emilia und Remigius in einem luftigen Zartblau und bei Johann, deinem Großvater, in einem erdigen Gelbgrün. Und die Schatten wichen zurück. Einen Einhorn und sieben Menschen mit Elementarkräften waren sie nicht gewachsen, dass wussten sie. Sie wechselten nur einen raschen Blick und zogen sich dann zurück, verschwanden in den Schatten zwischen den Bäumen. Die sieben Geschwister aber starrten mich erstaunt an, verblüfft über das, was gerade geschehen war. Ich bedankte mich bei ihnen dafür, dass sie mir das Leben gerettet hatten, und erklärte ihnen, was es mit ihren Kräften auf sich hatte. Ich weihte sie in das Geheimnis ein, das ich nun euch anvertrauen werde, also hört gut zu. Was ich euch jetzt erzählen werde, mag euch unglaublich erscheinen, aber es ist die Wahrheit. Ja, ich war einst ein Einhorn, und ich war in einer anderen Welt zu Hause. Der Grund, weshalb ich in diese hier kam, war der, dass ich einen Auftrag hatte. Die Schatten, jene dunklen Gestalten, die ihr gesehen habt, stammen ebenfalls aus jener anderen Welt. Sie wurden verbannt, weil sie den Frieden mit schwarzer Magie gefährdeten und nach der Macht griffen, um ihre Heimat unter ihre finstere Knute zu zwingen. Als Ort der Verbannung wurde eure Welt gewählt, weil ihre Kräfte hier beinahe wirkungslos sind. Sie sind des größten Teils ihrer Kraft beraubt, und meine Aufgabe war es, sie aus der Ferne zu bewachen, damit sie nichts Böses taten. Aber sie waren nicht nur zu dritt. Insgesamt sind es dreizehn. Doch selbst drei von ihnen besitzen zusammen immer noch einen Funken schwarze Magie, und so gelang es ihnen, mich in jenem Wald in die Enge zu treiben. Es gibt ein Tor, das in jene andere Welt zurück führt, aus der sie verbannt wurden und aus der auch ich kam, und sie wissen, wo es liegt. Sie können es aber nicht öffnen, nicht ohne den magischen Schlüssel, und den suchen sie seitdem. Doch um die Rückkehr der Schatten in die Welt zu verhindern, in der sie viel mächtiger sind als hier und die sie unterwerfen wollen, gab es schon immer Wächter. Ursprünglich hatte ich diese Aufgabe inne, doch an jenem Tag im Wald stellte sich heraus, dass meine Kräfte alleine nicht ausreichen würden. Und da, Sarah, kamen dein Großvater und seine Geschwister vorbei, und als sie mir halfen, erwachten ihre magischen Kräfte, und sie wurden zu den ersten Wächtern- den Sieben.Er machte eine kurze Pause, in der Sarah und Daniel einen faszinierten Blick wechselten, dann fuhr er fort. „Die Schatten suchten damals nach einem Weg, das Tor zu öffnen und in ihre Ursprungswelt zurückzukehren, aber den Sieben gelang es, diesen Plan zu vereiteln. Allerdings zu einem hohen Preis. Elfrida, die jüngste Schwester, kam bei der letzten Schlacht gegen die Schatten ums Leben, ebenso auch ich, als ich versuchte, sie zu beschützen.“ „Tante Elfrida?“, rief Sarah überrascht aus. „Sie starb lange vor meiner Geburt. Es hieß immer, es wäre ein Unfall gewesen.“ „Das war die offizielle Erklärung“, sagte Marischan, und er wirkte nun sehr niedergeschlagen. „Leider gelang es mir nicht, Elfrida zu beschützen. Ich wurde ebenfalls getötet, trat von da an aus dem Jenseits mit den Geschwistern in Kontakt und wurde viele Jahre später als Fuchs wiedergeboren, aber das ist eine andere Geschichte. Wie gesagt, es gelang den Sieben, das Tor vor den Schatten zu verschließen und den Schlüssel an einem geheimen Ort zu verstecken, wenn auch zu einem viel zu hohen Preis. Nachdem eine von ihnen gefallen war, verloren die übrigen ihre Kräfte. Aber sie hatten gesiegt. Die Schatten waren in alle Winde verstreut und ihrer Restkräfte weitgehend beraubt. Aber inzwischen haben sie wieder zusammengefunden, sind wieder stärker geworden und haben offenbar sogar einen Hinweis darauf gefunden, wo sich der Schlüssel zu dem Tor befindet. Nun, nach vielen Jahren, stellen sie wieder eine echte Gefahr dar, und ihre Pläne müssen erneut vereitelt werden. Die ursprünglichen Sieben sind dazu jedoch nicht mehr in der Lage- sie haben ihre Kräfte ja verloren. Aber es gibt eine neue Hoffnung.“ Mit leuchtenden Augen blickte Marischan zwischen Sarah und Daniel hin und her. Auch die beiden Jugendlichen blickten abwechselnd einander und den Fuchs an. „Meinst du etwa“, begann Daniel schließlich, und seine Augen weiteten sich überrascht, „dass wir…?“
Ja, genau ihr, warf jetzt Nelly schnurrend ein, die die ganze Zeit während Marischans Erzählung still gelauscht hatte, obwohl sie sie bereits kannte. Wenn jemand in die Fußstapfen der Sieben treten kann, dann seid das ihr beide. „Aber wir besitzen gar keine Elementarkräfte“, entgegnete Sarah. „Das nicht“, räumte der blauäugige Fuchs ein, der einst vor vielen Jahren ein Einhorn gewesen war. „Aber dafür besitzt ihr eine andere ganz besondere Kraft, die ihr erst noch entdecken werdet. Und die Unterstützung der ehemaligen Sieben- deines Großvaters und deiner Geschwister, Sarah. Und natürlich die der Tiere. Ihr könnt beide mit den Tieren sprechen, und ihr könnt auf ihre Hilfe zählen.“ „Und was sollen wir tun?“, fragte Sarah und wechselte einen unsicheren Blick mit Daniel. „Das Unternehmen der Schatten vereiteln“, antwortete Marischan mit leuchtenden Augen. „Nur ihr beide könnt das- ihr seid die Nachfolger der Sieben. Ihr könnt verhindern, dass sie den Schlüssel finden und in ihre Welt zurückkehren, indem ihr ihn vor ihnen findet. Es wird kein Spaziergang werden und leider auch nicht ganz ungefährlich. Es widerstrebt mir zutiefst, euch irgendeiner Gefahr auszusetzen, aber die Mission ist sehr wichtig. Außerdem habt ihr viele Beschützer: Nelly, mich, auch die verwilderten Pferde drüben auf den Wiesen, und Johann und seine Geschwister.“ „Wissen sie denn davon?“, fragte Sarah. „Ich habe gestern Halinor Bescheid gesagt, und sie wird inzwischen wiederum ihre Geschwister informiert haben. Sie sind darauf vorbereitet, euch zu unterstützen. Eure Aufgabe ist es nun, den Schlüssel zum Weltenportal zu finden, bevor die Schatten ihn finden. Es gibt nur ein Problem: Niemand weiß, wo er versteckt ist, auch wir nicht und keiner der Sieben. Und es ist kein… wie soll ich sagen… gegenständlicher Schlüssel. Das macht die Sache noch etwas komplizierter. Er ist irgendwo im… im Inneren. In etwas anderem verborgen. Besser kann ich es nicht erklären.“ „Was soll das nun wieder heißen?“, fragte Sarah verwirrt. „Und wieso?“ „Wir haben das so gemacht, damit, falls einer von uns den Schatten in die Hände fallen und von ihnen… befragt werden würde, der Ort, an dem der Schlüssel versteckt ist, nicht verraten werden kann.“ Sarah und Daniel wechselten einen erschrockenen Blick. „Was soll das heißen, befragt?“, keuchte Daniel scharf, und seine Augen richteten sich wieder auf den Fuchs. „Sag bloß, die werden uns foltern, wenn sie uns erwischen!“ Eigentlich überraschte es ihn aber nicht. Er hatte es gespürt, als der Schatten im Amphitheater im Park in seine Richtung gestarrt hatte; ebenso wie auch Sarah. Sie hatten beide gespürt, dass die Schatten kalt und grausam waren und dass es nicht viel gab, wovor sie zurückschrecken würden. Ohne Zweifel würden sie ihre dunklen Zauberkräfte einsetzen, um zu erfahren, was sie wissen wollten. „Sie werden euch nicht erwischen, das verspreche ich“, versicherte Marischan schnell. „Das würden weder ich noch eure anderen Freunde und Beschützer jemals zulassen. Wie ich damals bei Elfrida versagt habe…“ Er blickte zu Boden, und man sah ihm deutlich an, wie sehr ihm das immer noch zu schaffen machte. Dann hatte er sich wieder gesammelt, blickte wieder auf und fuhr fort. „Es stimmt, dass eure Aufgabe nicht ganz ungefährlich sein wird, aber ihr seid die Einzigen, die das tun können, sonst würde ich euch nicht darum bitten. Ihr werdet beschützt, und ich schwöre, dass ich nicht zulassen werde, dass euch etwas zustößt. Morgen werden wir euch das Tor zeigen… das heißt, sofern ihr das Wagnis wirklich auf euch nehmen wollt.“ Daniel und Sarah sahen einander in die Augen; beide fragten sich dasselbe: Würden sie sich auf das Abenteuer einlassen? Würden sie, der Gefahr zum Trotz, die Nachfolge der Sieben antreten und versuchen, den Schatten das Handwerk zu legen, um eine fremde Welt zu beschützen? Noch während sie einander in die Augen sahen, fassten sie beide denselben Entschluss. Sie wollten die Welt, die Marischan und Sarahs Großvater so viel bedeutete, nicht im Stich lassen. „Machen wir es?“, fragte Sarah. „Wir machen es“, sagte Daniel. Marischan und Nelly strahlten erfreut. „Ihr glaubt ja gar nicht, wie viele Leute euch dankbar sein werden, dass ihr euch so entschieden habt“, freute sich der Fuchs. „Sie werden nun jemanden haben, dem sie ihre Hoffnung in die Hände legen können, wenn die Zeiten ein wenig schwer werden. Vielen Dank, meine Freunde- morgen zeigen wir euch das Portal.“ „Darauf bin ich schon sehr gespannt“, entgegnete Sarah ehrlich, und Daniel nickte mit leuchtenden Augen seine Zustimmung.

von Aileea